Zwischen Morgen und Abermorgen
Die Kalltalgemeinschaft nach der Kalltalgemeinschaft

„Meine Seele schüttelt verwundert ihr Haupt. Fragend sehen die Augen in die Weite. Sie suchen nach Antwort, die die Seele nicht findet.“

Franz Nitsche
Neue Herausforderungen

„So wurden […] langsam die Mächte stärker, die ihn [Seiwert] zurück in die große Stadt und ihre sozialen Kämpfe zogen […]. Obwohl wir [das Ehepaar Jatho], wie alle Freunde mit uns, die Ermordung Karl Liebknechts und der Rosa Luxemburg auf Befehl betreßter Unholde als durch gar nichts zu beschönigende Untat betrachteten, versagte doch der marxistischen Ideologie gegenüber bei uns jener Glaube, der zum Opfer befähigt. […] Der Freund [Seiwert] kehrte im Herbst 1920 bereits nach Köln zurück.“

Carl Oskar Jatho, Franz Wilhelm Seiwert, 1964

Abschied von Simonskall

„Ich habe selber Erfahrungen damit gemacht, und zwar keine guten, als Mitglied der Kalltal-Gemeinschaft, die über den Anfang nicht hinauskam, weder als Einrichtung, noch als Gemeinschaft.“

Franz Wilhelm Seiwert, Brief an Tristan Rémy, 1923

Franz Wilhelm Seiwert, Solidarität, 1922 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d045385

Franz Wilhelm Seiwert, Solidarität, 1922 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d045385

„Im Jahre 1918 wurde von Karl Zimmermann, Carl Jatho, dem Maler Nitsche und dem Graphiker Franz Wilhelm Seiwert in Simonskall bei Montjoie (Rheinland) die Kalltal-Gemeinschaft gegründet. Die Ziele dieser Gemeinschaft waren: gemeinsame Siedelung, gemeinsames Schaffen und Gründung einer eigenen Presse. Es wurde dieser Gemeinschaft aber dasselbe Schicksal zuteil wie so vielen ähnlichen Unternehmungen heute: sie blieb in den Anfängen stecken.“

Julius Rodenberg, Deutsche Pressen. Eine Bibliographie, 1925
7 Antlitze der Zeit

Für die anarchistische Zeitschrift Der Ziegelbrenner – Kritik an Zuständen und widerwärtigen Zeitgenossen, die von Ret Marut alias B. Traven zwischen 1917 und 1921 in München und Köln herausgegeben wurde, schuf Franz Wilhelm Seiwert 1921 die Grafiken 7 Antlitze der Zeit.

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„Alles was wir bürgerliche Intellektuellen (und es gibt keine anderen als bürgerliche Intellektuelle), die aber den Willen zur kommenden Gesellschaft haben, tun können, ist Abbrucharbeit zu leisten am Gebäude der kapitalistischen Gesellschaft, indem wir die Mittel dieser Gesellschaft und ihrer Kultur gegen sie verwenden und dort, wo die dialektische Entwicklung der bürgerlichen Kultur, Kunst und Wissenschaft zur Zerstörung des Grundes der bestehenden Gesellschaft führt, diese Tatsache offenbar machen und jeden Versuch der Vertuschung und Verkleisterung verhindern.“ Franz Wilhelm Seiwert, Die Kunst und das Proletariat, in: Die Tat, Heft 15, 1923/24

Franz Wilhelm Seiwert, 7 Antlitze der Zeit: IV. Die Arbeitsgemeinschaft, 1921 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf160553

Franz Wilhelm Seiwert, 7 Antlitze der Zeit: IV. Die Arbeitsgemeinschaft, 1921 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf160553

„Da ist Ret Marut, der an einem anderen Punkt die grossen Zusammenhänge sieht. Die alte Welt zerschlägt und die neue sich gebären lässt: Ich ist der Mittelpunkt der Welt. […] Ich ist verknüpft, ist verbunden mit Nächstem und Fernstem. […] Und schon empfangen wir Kunde von Ländern jenseits der Erde, uns aufrufend zur Verwirklichung von uns, zur Aussendung von uns. […] Heute ist ,der Mitteltag der Entwicklungsgeschichte der Menschheit', denn in uns hat die Menschheit ihren Mitteltag erkannt, denn wir sind die Menschheit. Gruss Dir Teil meines Ich Hochverräter Marut.“

Franz Wilhelm Seiwert, Über Ret Marut [Manuskript], 1920
gruppe progressiver künstler

In den beginnenden 1920er Jahren fanden unter dem Namen gruppe progressiver künstler beispielsweise Franz Wilhelm Seiwert, Heinrich Hoerle, August Sander, Otto Freundlich und Gerd Arntz in Köln zusammen. Mit Ende der Weimarer Republik löste sich die Gruppe wieder auf. Ihr sozialkritisches Anliegen formulierten sie sowohl in ihren künstlerischen Werken als auch in ihrer Zeitschrift a bis z, die von 1929 bis 1933 erschien.

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„Die Beziehung wird noch deutlicher, wenn man einen Maler wie den Kölner Franz Wilhelm Seiwert betrachtet, der ohne kubistische ,Ornamentik‘ gar nicht zu denken wäre. Er hat das Flächengefüge dieser Formkombinationen zu einem Flechtwerk schematischer Arbeitergestalten entwickelt, die in gleichmäßiger Haltung zur unteilbaren Einheit gebunden zusammenstehen: alle für einen, einer für alle. So unscheinbar die graue Anonymität der einzelnen Gestalten, so lebhaft fluktuierend sind die Farbformbeziehungen, durch die sie miteinander verbunden, zum einprägsam profilierten Gemeinschaftswesen verschmolzen werden. Keine Summe von Einzelnen, am allerwenigsten von zufällig zusammengewürfelten, sondern eine vielgliedrige Einheit im Schicksal, Einheit im Geist: Das Bild ist dem Wesen der Masse zuinnerst verbunden.“ Ernst Kállai, Zurück zum Ornament, in: Sozialistische Monatshefte, Jg. 38, Bd. 76, Nr. 7 1932

 

„befreit vom jahrhunderte lang herrschenden westeuropäischen dogma der naturalistischen persepektive, modellierung und farbmischung, konnte die bildende kunst wieder auf geradestem, dafür aber auch plötzlich steilstem, wege zum dolmetsch des wesentlichen werden, konnte struktur des gesellschaftlichen und kosmischen fühlbar und schaubar machen und das wieder zu werden versuchen, was sie in den streng altweltlichen zeiten einst war: zeichendeuterin universeller kräfte und ordnungen. als mitschaffenden mitten im vortrupp der ehrlichen und unermüdlichen sucher auf diesem heute ganz neu wieder zu bahnenden weg sehen wir mit dem werk eines jahrzehnts franz wilhelm seiwert.“ Carl Oskar Jatho, zu den arbeiten franz wilhelm seiwerts. ausstellung in der galerie dr. becker-newman, köln, in: a bis z, Nr. 1, 1929

Franz Wilhelm Seiwert, Die Arbeitsmänner, 1925. Düsseldorf, Museum Kunst Palast © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000512

Franz Wilhelm Seiwert, Die Arbeitsmänner, 1925. Düsseldorf, Museum Kunst Palast © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000512

„Etwa im Jahr 1925 entdeckte ich die Gruppe der Progressiven. […] Wenn man die politischen Prämissen der Gruppe kennt, den marxistischen Ausgangspunkt, könnte man meinen, hier seien zunächst Bekenntnisse abzulegen, parteiähnliche Formalien zu erfüllen gewesen. Nein, es herrschte absolute Liberalität. […]
Der seelisch-geistige Mittelpunkt der Gruppe war unbestreitbar Franz Wilhelm Seiwert, dessen bedachtsame, stille, nur in Diskussionen aufflackernde Natur durch sein furchtbares Leiden eine Art von Heiligung erhielt. […] Heinrich Hoerle war ein Zyniker, ein satirisches Genie […]. Beide aber hatten eine außerordentliche Integrationskraft für die übrigen Freunde. […]
Das Thema war der Ernst des Lebens und der Kunst, bloß auf rheinische Art betrachtet. […]
Als unbestechlichen Freund, aber auch Kritiker haben wir immer den Kunsthistoriker und Schriftsteller Carl Oskar Jatho in Köln angesehen.“

 

Hans Schmitt-Rost, Die Progressiven und ihre Freunde, 1975
a bis z. organ der gruppe progressiver künstler

„Dieses Kölner Organ der Gruppe progressiver Künstler war die einzige Kunstzeitschrift Deutschlands, die nicht schöngeistiges Genießertum und auch keine formalistische Richtung, sondern eine religiös vertiefte soziale Weltanschauung vertrat. Klein im Umfang, doch konzentriert im Inhalt, kamen Jahr für Jahr die Nummern dieser Zeitschrift heraus, mit der unbeirrbaren Stetigkeit von Tropfen, die hart und klar immer auf den gleichen wesentlichen Nerv der künstlerischen Lage fielen.“

Ernst Kállai, In memoriam Franz Wilhelm Seiwert, in: Forum, Jg. 3, Nr. 9, 1933

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Die Zeitschrift a bis z wurde von 1929 bis 1933 als Sprachorgan der gruppe progressiver künstler publiziert. Es erschienen hierin auch Texte von und über Künstler außerhalb dieser Gruppe, wie beispielsweise Josef Albers, Raoul Hausmann, Carl Oskar Jatho, Ernst Kállai, Stanislav Kubicki, Kasimir Malewitsch oder László Moholy-Nagy. Bis zur Ausgabe 22 im Jahr 1932 war Heinrich Hoerle der Herausgeber. Hoerle wurde ab dann auch nicht mehr neben Franz Wilhelm Seiwert und Walter Stern als Teil der Redaktion aufgeführt.

Franz Wilhelm Seiwert, Abstrakte Komposition, 1922 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d045391

Franz Wilhelm Seiwert, Abstrakte Komposition, 1922 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d045391

„denn das gesetz der welt ist die änderung der welt. wir hatten um 1913/14 gekämpft um die lockerung der welt und ihres bildes. wir hatten versucht, der welt ein neues gesicht zu geben. wir glaubten 1918 schon das wachsen neuer sinnesorgane zu spüren, die uns tasten ließen an die unendlichkeit der welt. wir schreiben 1929. es sieht so aus, als ob alles nur gewesen wäre, um den händlern neue geschäfte zu sichern. aber achtung! noch ist nicht aller tage abend. denn auch die entwicklung der kunst ist eine dialektische.“

 

Franz Wilhelm Seiwert, es ist noch nicht aller tage abend, in: a bis z, Heft 1, 1929
„Kunst war Dienst geworden“

„Noch einmal, zur Zeit der Ruhkämpfe […] tritt eine heilsgeschichtliche Erscheinung, ein im Herzen Seiwerts schon längst als tot vermutetes Idol, mitten in die Nachkriegsmisere. Im Winter 1921/22 rief er in einer letztmaligen gläubigen Vision den Mann zu Hilfe, den er von den ersten künstlerischen Versuchen seiner Jugend an so oft als Ecce homo […] verbildlicht hatte. Er schrieb auf den von ihm aus Dachlatten gezimmerten und schwarz gestrichenen Rahmen des zweidrittel Meter hohen Bildes mit roter Farbe: ,Christus im Ruhrgebiert XX. Jahrhundert'.“

Carl Oskar Jatho, Franz Wilhelm Seiwert, 1964

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Das Bild wurde 1922 auf der Ausstellung Christliche Malerei im Kölner Kunstverein ausgestellt und war 1930 das Covermotiv der Zeitschrift Besinnung und Aufbruch. 1942 bei einem Bombenangriff zerstört. Ein Glasbild gleicher Thematik befindet sich heute im LVR-LandesMuseum Bonn und ist als Kopie Teil der Ausstattung der evangelischen Emmanuelkirche in Köln.

Franz Wilhelm Seiwert, IAH (Internationale Arbeiterhilfe), 1924. Berlin, Privatesammlung (Kubicki, K.) © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000519

Franz Wilhelm Seiwert, IAH (Internationale Arbeiterhilfe), 1924. Berlin, Privatesammlung (Kubicki, K.) © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000519

„Seine [Seiwerts] Kunst war Dienst geworden, Dienst am Sozialismus, wenn auch an seinem Sozialismus.“

Carl Oskar Jatho, Franz Wilhelm Seiwert, 1964
„Soziales Ethos mit konstruktiv abstrakten Mitteln"

„Als ich, anderthalb Jahre nach Seiwert, in die Großstadt zurückverschlagen, wieder Arbeiten – Schnitte und Tafelbilder – des Freundes sah, waren nicht nur die Inhalte andere geworden. […] […] Strich und Farbe waren, gemessen besonders an den ganz frühen lyrisch-melodischen Klängen und der Welt zum Staunen, nüchterner, rationaler geworden; sie unterordneten sich geradezu planimetrischer Disziplin […]. […] Sein Bestreben, soziales Ethos mit konstruktiv abstrakten Mitteln vorzutragen, wurde ermutigt von einer damals schon paneuropäisch gewordenen, der Expression die Konstruktion entgegensetzenden Bewegung. Durch russische – Lisitzky, Malewitsch, Jawlensky – doch stärker noch durch holländische Maler – Theo van Doesburg und Piet Mondrian – fühlte er sich als Künstler bestätigt und als politischer Mensch insofern nicht allein gelassen, als ihm die Sprache dieser Kunst als solche einzig legitim dünkte, auch inhaltlich-politisch sich in ihr auszudrücken. […] Mehr und mehr denn nahmen die Bildkonstruktionen den Charakter präziser Formulierungen an, denen zufolge die künstlerische Aussage die thematische zeitgültig sinnfällig machte.“

Carl Oskar Jatho, Franz Wilhelm Seiwert, 1964

Franz Wilhelm Seiwert, Freudlose Gasse, 1927. Hamburg, Privatsammlung © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000506

Franz Wilhelm Seiwert, Freudlose Gasse, 1927. Hamburg, Privatsammlung © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000506

„anders seiwert: seine bordellstraße ist zuerst malerei, d. h. fläche und strengste gliederung. er malt keine dirnenporträts, sondern nur leere gesichtsflächen. kein lyrismus stört die klarheit der sozialen machtlagen: polizei, gittertür, reglement, geschäftsmäßigkeit, zahlender verbraucher. im formgesetz des bildes offenbart sich das formgesetz der gesellschaftlichen struktur, die fixierung der klaren verstandesmäßigen erkenntnis.“ Hans Faber, inhalt und form, in: a bis z, Heft 20, 1931

„Es geht um eine Neuordnung nicht nur der Gesellschaft, sondern der Welt, und da kann alle Tat nur im gemeinsamen Tun geschehen. […]
Das einzigste, was wir tun können, ist zunächst Klarheit hineinzubringen in uns und unsere Beziehungen, und dieser Klarheit in unserem Werk Ausdruck zu geben mit den Mitteln des Werks. Durch die Gesetzmäßigkeit unseres Werks auf die Gesetzmäßigkeit alles Bestehenden hinzuweisen, und hierdurch hinzuweisen auf seine Bezogenheit.
[…] Das Gesetz der Welt ist die Änderung der Welt. Und deshalb haben wir als Revolutionäre, das heißt als Lebendige, die Pflicht, unser Werk zu gebrauchen als Kampfmittel gegen die herrschende Klasse, damit durch ihren Sturz die Bahn frei wird: die Kultur der klassenlosen Erdgemeinschaft.“

Franz Wilhelm Seiwert, Zeichen II. Versuch der Aufzeichnung einer dialektischen Entwicklung in der Darstellung des Gesichtes der Welt, in: Die Aktion, Jg. 15, Heft 6, 1925
Kongress der Union Internationaler Fortschrittlicher Künstler

Im Mai 1922 organisierte die Künstlergruppe Das junge Rheinland den Kongress der Union Internationaler Fortschrittlicher Künstler in Düsseldorf. Der Kongress wurde von zahlreichen Künstlern sowie Personen der Kunstszene besucht, darunter Vertreter des Werkbunds, der Berliner Novembergruppe, der Darmstädter Sezession, der Dresdner Sezession Gruppe 1919, aber auch von De Stijl, den russischen Konstruktivisten oder den italienischen Futuristen. Auch Franz Wilhelm Seiwert und Otto Freundlich waren unter den Teilnehmern. Das Ziel des Kongresses, eine Union zur Vertretung gemeinsamer Interessen zu gründen, scheiterte jedoch an Meinungsverschiedenheiten.

Foto von Teilnehmern des Kongresses der Union Internationaler Fortschrittlicher Künstler © gemeinfrei

Foto von Teilnehmern des Kongresses der Union Internationaler Fortschrittlicher Künstler © gemeinfrei
Sozialistische Kunst von heute

„Bei den Holländern selbst war ein freundlicher sozialer Wille in freundlich stilisierter Form zu finden. Leider müssen wir in Deutschland schon etwas dichter an das heiße Eisen herangehen. Uns brennt die Not auf den Nägeln, so daß wir nicht mehr recht imstande sind, zu stilisieren und zu dekorieren. Tatsächlich schien zwischen der holländischen und der deutschen Abteilung – im gleichen Saale – eine Welt zu liegen, und ich kann verstehen, wenn die holländische Kunstkritik, die der Ausstellung und gerade auch der deutschen Abteilung eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit schenkte, die deutsche Kunst kopfschüttelnd als ,durch und durch krank' empfand.“

Adolf Behne, Sozialistische Kunst von heute, internationale Ausstellung in Amsterdam, in: Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung, Heft 2, 1931

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1930 fand in den Niederlanden im Stedelijk Museum Amsterdam die Ausstellung Sozialistische Kunst von heute statt, an der neben Vertretern der gruppe progressiver künstler wie Franz Wilhelm Seiwert etwa Otto Sander, Otto Nagel, Fritz Schiff oder Werner Scholz teilnahmen.

Franz Wilhelm Seiwert, Die Menschen fallen – die Profite steigen, 1924 [hier in der „a bis z“ 1930] © gemeinfrei
Gruppe 32

Im Jahr 1932 gründete Anton Räderscheidt zusammen mit Franz Wilhelm Seiwert, Heinrich Hoerle, Heinrich Maria Davringhausen und Ludwig Egidius Ronig die Gruppe 32. Sie löste sich bereits ein Jahr später wieder auf.

1933

„1933 fiel man uns ins Wort, fielen wir aus dem Rahmen, wurden wir, die doch eben erst Angekommenen, schon deportiert in die äußere oder innere Emigration.“

Marta Hegemann, Erinnerungen, 1965

„Zur Nationalisierung des Geistes"

Der Nationalismus und völkische Rassismus, der schon im Kaiserreich weite Teile der Bevölkerung erfasst hatte, fand mit 1933 seine realpolitische Form: Es kam zur ,Machtergreifung‘ durch die Nationalsozialisten und Adolf Hitler wurde Reichskanzler. Zu den Verfolgten im ,Dritten Reich‘ gehörten auch zahlreiche Kunstschaffende.

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„Verrat an deines eignen Volkes Würde,
Verrat an allem, was uns Ehre bringt,
Uns redlich Deutschen, die des Stummseins Bürde
Zu der Verhehlung deutschen Wesens zwingt.
 
Wie sich der Ungeist über Deutschland rekelt
Und ,deutschen Geist' nennt seinen blutigen Sud!
Verbannt aus unserm Bund, wer sich nicht ekelt!
Verbrüdert, Freund, euch – aus jedem Blut!“

Carl Oskar Jatho, Das Gartengespräch. Ein rheinischer Zyklus, 1946

Franz Nitsche, Illustration in Zwischen Morgen und Abermorgen, 1916-18 © gemeinfrei

Franz Nitsche, Illustration in Zwischen Morgen und Abermorgen, 1916-18 © gemeinfrei

„Warum die europäische Kunst sich so eingehend mit der ostasiatischen, afrikanischen und Indianerkunst auseinandersetzte[?] Weil dies der Beginn einer universalen Kunst verlangte: […]. […] Die Naziregierung haßt die revolutionäre Kunst und zieht die Kunst der Wachsfiguren vor. Natürlich. Denn da die Künstler dem schalen Schwindel des Klassizismus die ehrliche an Gegensätzen reiche Kunst der Asiaten, Neger & Indianer vorzogen, bekannten sie sich zu ihren farbigen Brüdern aller Zeiten und verbanden dadurch das hochmütige u. exclusive Europa mit dem Geistesleben der farbigen Völker. […] Es ist ein Irrsinn von Leuten, die noch heute in der Romantik der Postkutsche leben möchten, die weltverbindenden universellen und internationalen Kräfte der Elektrizität arisch nationalisieren zu wollen. Es gibt kein Zurück zur Postkutsche, nur ein Hinauf zur Internationale. […] Und nicht nur der weißen Rasse, sondern in starkem Maße auch den farbigen Rassen gehört unser Werk. Denn ihnen schulden wir eine Gegengabe für das, was sie uns gaben.“

Otto Freundlich, Zur Nationalisierung des Geistes [Manuskript], 1935
Das Bauhaus schließt – ein Beispiel von vielen

„Als in der Revolutionszeit 1918 durch Gropius das ,Bauhaus‘ gegründet wurde, stellte er es bewußt und konsequent auf die künstlerische und soziale Ideologie ein […]. […] Eine prächtige, vielseitige, immer schöpferisch bewegte, jugendliche Tradition wurde seitdem durch das ,Bauhaus‘ geschaffen, die sich als solche eingliederte in die radikale Umwälzung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. […] Kein Schultze-Naumburg und keine Hitler-Jünglinge werden dies unmöglich machen; so können sie den Geist nicht töten, denn dieser hat sich die Welt schon erobert […]. […] Wir kennen unsere Feinde, und wir bitten sie um nichts. Sie rächen sich am ,Bauhaus‘, und wir werden umso schonungsloser ihnen den schwachen Nerv zerreißen, der heute noch ihr schwaches Leben speist. Die neue Menschenrasse, die wir meinen, kennt keine Haut- und Haarfarbe; […]. Die falschen Fassaden sind es, die die neue Baukunst abrasiert hat. Die falschen Fassaden sind es ebenfalls, die die neue Gesellschaft nicht mehr duldet. Möge endlich das Deutschland der reinen Architektur kommen!“

Otto Freundlich, Für das Bauhaus und gegen die Kulturreaktion, 1933

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„Eine Schande, daß sich die Kulturwelt nicht erhebt und ein Veto einlegt. Aber wir sind alle anscheinend so mürbe und resigniert, daß alles geschehen kann.“

Oskar Schlemmer, Brief an Christof Hertel zur Schließung des Bauhauses, 1932

„der tägliche unsinn

das bauhaus von dessau ist auf antrag der nazis unter stimmenenthaltung der spd geschlossen worden. die ,deutsche kultur' unter anführung von schultze-naumburg, dem erbauer [...] für das raffende ,kapital' hat gesiegt.“

o. A., a bis z, Heft 28, 1932
„Geisteskranke Nichtskönner"

Zur Propagandamaschinerie gehörte das Arbeitsverbot für zahlreiche Literaten und bildende Künstler beziehungsweise die Zerstörung und Ächtung ihrer Werke. In der Ausstellung Entartete Kunst in München 1937 wurde dem deutschen Publikum vor Augen geführt, wie eine Kunst im ,Dritten Reich' nicht auszusehen hatte. Die Ausstellung Entartete Kunst wurde in Deutschland danach beispielsweise noch in Berlin, Düsseldorf, Hamburg und Salzburg gezeigt. Auf dem Titelblatt des Ausstellungsführers wurde Otto Freundlichs Großer Kopf, von den Nationalsozialisten diffamierend mit Der neue Mensch betitelt, abgebildet. Im Handzettel zur Ausstellung in München spricht man von „Gequälte Leinwand – Seelische Verwesung – Krankhafte Phantasien – Geisteskranke Nichtskönner“. Was man hingegen als ,deutsche Kunst‘ ansah, zeigt die parallel dazu präsentierte Erste Große Deutsche Kunstausstellung in München.

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Folgende Künstler, die Ihnen im Rahmen dieser virtuellen Ausstellung begegnet sind, waren Teil der Ausstellung Entarte Kunst beziehungsweise ihre Werke wurden als solche, etwa schriftlich fixiert in einem Verzeichnis des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda um 1941/42, bezeichnet:


Jankel Adler, Jean Arp, Otto Dix, Heinrich Maria Davringhausen, Max Ernst, Lyonel Feininger, Otto Freundlich, Raoul Hausmann, Marta Hegemann, Heinrich Hoerle, Alexej von Jawlensky, Artur Kaufmann, El Lissitzky, Franz Marc, László Moholy-Nagy, Piet Mondrian, Kurt Nantke, Nitsche-Nietzsche [Franz Nitsche], Otto Pankok, Richard Paling, Anton Räderscheidt, Ludwig Egidius Ronig, Egon Schiele, Oskar Schlemmer, Franz Wilhelm Seiwert, Gustav Wiethüchter, Gert Heinrich Wollheim, Adolf Uzarski.

Peter Petry, das Pseudonym von Carl Oskar Jatho, wird in der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums von 1939 geführt.

Cover Ausstellungsführer Entartete Kunst 1937 © gemeinfrei

Cover Ausstellungsführer Entartete Kunst 1937 © gemeinfrei

„Wir stehen frierend an des Felsens Grund,

Und bang befrag ich deinen blassen Mund

Und fühle scheuen Seufzer darauf brennen:

O daß doch Dom und Strom den Klang von einst gewännen!“

 

Carl Oskar Jatho, Das Gartengespräch. Ein rheinischer Zyklus, 1946
„Dem Andenken meiner Freunde"

„kunst ist die ausdauer der hinterbliebenen.“

Heinrich Hoerle, [o. T.], in: stupid 1, 1920

Abschied von Freunden

Bereits 1923 war Angelika Hoerle verstorben, darauf folgten 1933 Franz Wilhelm Seiwert und 1936 Heinrich Hoerle. Otto Freundlich starb 1943 im Konzentrationslager. Carl Oskar Jatho, Käthe Jatho Zimmermann, Franz Nitsche, Ret Marut alias B. Traven, Anton Räderscheidt und Marta Hegemann überlebten den Zweiten Weltkrieg und waren danach weiterhin künstlerisch produktiv.

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„Mit 39 Jahren ist in Köln der Maler Franz Wilhelm Seiwert verstorben. Ein wertvoller Künstler, ein unentwegter sozialer und geistiger Kämpfer und ein Kamerad von wahrhaft religiösem Gemeinschaftsgefühl.“

Ernst Kállai, In memoriam Franz Wilhelm Seiwert, in: Forum, Jg. 3, Nr. 9 1933

Otto Freundlich, Ascension [Aufstieg], 1929. Köln, Museum Ludwig © Rheinisches Bildarchiv Köln, Schlier, Britta, 2016.07.11, rba_d040327_01

Otto Freundlich, Ascension [Aufstieg], 1929. Köln, Museum Ludwig © Rheinisches Bildarchiv Köln, Schlier, Britta, 2016.07.11, rba_d040327_01

„Sie Beide standen jahrelang auf einsamen Vorposten. Sie erfüllten die schwere Pflicht des Künstlers, die revolutionären Forderungen der Kunst mit den revolutionären Forderungen des Proletariats zu verbinden. In diesem Geiste gaben sie die Monatsschrift – a bis z – heraus, die auf ihren 4 Seiten an Tiefe der Probleme, an Sauberkeit der politischen Gesinnung, an Reichtum und Neuartigkeit reproduzierter Kunstwerke, Vergleichsbeispielen ältester und neuester Kunstformen, dicke luxuriöse Kunstzeitschriften überragte.

Ihre Arbeiten, die in vielen Museen vertreten waren, erreichte unter dem nationalsozialistischen Regime derselbe Bannfluch, wie die gesamte deutsche Kultur […].

[…]

Die tapferen Kämpfer Seiwert und Hoerle werden unvergessen bleiben, und ihre Werke werden einst in Glanz und Ehren wieder auferstehn und zu den kostbarsten Erzeugnissen der Kunst dieser Übergangsepoche gerechnet werden, aus der siegreich eine im Frieden und in sozialer Gemeinschaft geeinte Menschheit hervorgehen wird.“

Otto Freundlich, Dem Andenken meiner Freunde. F. W. Seiwert und H. Hoerle, 1936
Das Junkerhaus in Simonskall heute

Das Junkerhaus in Simonskall, wo sich die Kalltalgemeinschaft von 1919 bis 1921 aufgehalten hat, wird gegenwärtig vor allem für Kunstausstellungen zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen genutzt.

Der 2004 gegründete Kunst- und Kulturverein „HöhenArt Hürtgenwald e. V.“ widmet sich der Pflege und dem Erhalt von Dokumentationen über die Kalltalgemeinschaft und veranstaltet die Kunstausstellungen im Junkerhaus.

An die Kalltalgemeinschaft erinnert heute wenig. Umso wichtiger ist es, das Junkerhaus in Simonskall als Wirkungsstätte der Kalltalgemeinschaft zu erhalten und einen Gedächtnisort in Form eines Museums mit Dauer- und Sonderausstellungen zu schaffen. 

Otto Freundlich, Aufschwung, 1917 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d040301

Otto Freundlich, Aufschwung, 1917 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d040301

„Die Gemeinschaft der Einsamen“ – Das Epochenjahr 1919

Entdecken Sie im ersten Ausstellungsraum, welche Ereignisse die junge Weimarer Republik geprägt haben und wie sich die rheinische Kunstszene um 1919 darstellte.

„Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft“ – Die Gründung der Kalltalgemeinschaft

Entdecken Sie im zweiten Ausstellungsraum, wie es zur Gründung der Kalltalgemeinschaft in Simonskall kam und welche Einflüsse hierfür von Bedeutung waren.

„Welt zum Staunen“ – Das künstlerische Schaffen der Kalltalgemeinschaft

Entdecken Sie im dritten Ausstellungsraum, welche künstlerischen Arbeiten die Kalltalgemeinschaft schuf und durch welchen Kunstbegriff diese geprägt waren.

Meine Sammlung

Entdecken Sie, mit welchen Exponaten Sie Ihr virtuelles Museum bestückt haben.